Island polarisiert. Obwohl nah am Polarkreis gelegen, wird Sie diese Insel nicht kalt lassen. Wie Feuer und Eis in Island liegen Zu- und Abneigung für dieses Land oft sehr nah beieinander. Island macht süchtig, oder man lässt für immer die Finger vom Rad fahren in Island!

Man trifft einige Radfahrer in Island, die über dieses Land schimpfen, die von den starken Winden, von tagelangem Regen, von Frost und Schlamm oder kilometerbreiten Flüssen überrascht worden sind. Sie hatten einfach mit falschen Vorstellungen und schlechter Ausrüstung das Abenteuer “Island per Rad” auf sich genommen. Doch der großen Mehrheit liest man die Faszination und Begeisterung für Island geradezu den vom Straßenstaub grau eingerahmten, glänzenden Augen ab. Sie haben sich nicht von den Widrigkeiten abhalten lassen, die eine Insel im Nordatlantik auszeichnet. Ein ideales Fahrradland, gemessen an mitteleuropäischen Maßstäben, ist Island sicherlich nicht (und wird es auch nicht werden). Nur wenige Straßen sind asphaltiert. Im zentralen Hochland erschweren neben einer holperigen Piste oft auch unüberbrückte Flüsse das Vorankommen.

Island, das ist Natur pur. Die Straßen winden sich um und über die Berge, passen sich der Landschaft an und nicht umgekehrt. Viele Bergpässe sind steil, sehr steil. Steigungen über 20 Prozent sind nicht selten. Eine schweißtreibende Angelegenheit und doch ein schönes Erlebnis, mit Muskelkraft den Berg erklommen zu haben und das Bergpanorama genießen zu können. Doch der Kampf mit den schlechten Wegen und den auffrischenden Winden wird in erster Linie im Kopf und erst dann mit den Beinen gewonnen. Ein gutes Fahrrad und eine hervorragende Ausstattung sind notwendige Voraussetzungen für eine gelungene Islandtour, aber keine Garantie. Auch in Island fährt ein superleichtes Mountainbike noch nicht von allein den Berg hinauf.

Ein gutes Beispiel dafür, dass man auch ohne Hightech durch Island radeln kann, ist Josef. Josef ist Schweizer und radelt seit 1985 jeden Sommer für drei Monate mit einem alten Postrad durch Island. Sein Rad hat nur drei Gänge, und doch kommt auch er voran. Mit einem starken Gürtel zieht er sein Rad samt Anhänger den Berg hinauf. In Island trifft man aber nicht nur auf Leute wie Josef. Er ist eher die Ausnahme, ein Individualist unter den vielen Individualisten. Und doch verbindet sie alle ein Wunsch: Das Erlebnis, den Schweinehund zu überwinden, und das unbeschreibliche Gefühl, irgendwo, fernab von jeglicher Besiedlung den Einklang mit der Natur zu finden.

Radfahrer in Island lassen sich meist in drei Gruppen aufteilen. Da ist zum Beispiel Hans. Hans fährt, wenn er Lust hat und das Wetter mitspielt. Beim ersten Regenschauer hält er nach dem Bus Ausschau oder steuert so schnell wie möglich den nächsten Hof an, um mit trockenen Sachen den nächsten Tag beginnen zu können. Hans hatte Pech, er hatte einen Kettenriss im Hochland, doch weit und breit gab es niemanden, der ihm einen Kettennietenlöser lieh. So nahm Hans eine Zange, kniff die Nieten zusammen und steigt seitdem bei jeder Steigung lieber ab, damit die Kette nicht noch einmal reißt. Er flucht nicht, denkt an Zuhause, an wärmere Gefilde und daran, wann denn der Bus kommt. Hans meckert nicht, sieht Island als Abenteuer, und ihm gefällt es, wenn er die Berge schiebend bewältigt. Hans ist glücklich.

Wir treffen auch Winfried. Winfried strampelt bei jedem Wetter auf Teufel komm raus. Er erzählt uns stolz von seinen Tagesetappen, hat noch nie den Bus benutzt, denn das könnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Die Ringstraße, die einmal um die Insel führt, möchte er aus eigener Kraft absolvieren. Seit seiner Ankunft vor drei Wochen hat Winfried sich nicht mehr rasiert. “Ein Rasierer wiegt zuviel”, sagt er. Schließlich musste er noch den Helm mitnehmen, den er von seiner Mutter bekommen hat. Ansonsten hätte er nicht allein nach Island fahren dürfen. Winfried kämpft. Man trifft ihn auch nachts, wenn die Mitternachtssonne am Horizont entlang kriecht. Wenn eine graue Gestalt im Nieselregen bei 4 °C durch die Wüste fährt, und man ihn eher riecht, als dass man ihn hört, das ist – nein, das war Winfried. So schnell ist er schon wieder weg. Er liebt das Land, das Abenteuer und die Erfahrung. Er ist gern allein, mittlerweile schmeckt ihm sogar der Staub der Straße.

Man trifft viele Genießer, vollbepackt sind ihre Fahrräder, zufrieden die Menschen. Sie machen Urlaub mit dem Rad, ohne Stress. Eine von ihnen ist Ruth. Ruth nimmt sich Zeit für die Natur, ihr macht Regen und Wind zwar nichts aus (“Ist doch Natur”), doch ist ihr die warme Mahlzeit am Abend im Zelt lieber, als sich den Staub der Piste von den Lippen zu lecken. Sie schaut nicht permanent auf den Tacho. Bei einer Panne, auch im Hochland, bleibt ein Lächeln auf ihren Lippen. “Erst mal ein Foto und eine Zigarette, und dann sehen wir weiter. Wir haben doch Abenteuer gebucht!” Ruth schleppt manchmal ein Kilo Kartoffeln mit sich herum. “Bratkartoffeln mit frischen Zwiebeln müssen einfach sein”, sagt sie. Trockensuppen konnte sie schon nach einer Woche nicht mehr sehen. In der Wüste hat sie Brot gebacken. Mehl und ein wenig Hefe ersetzen die vielen Brote, die die anderen Radfahrer in die Taschen gestopft haben und von denen die meisten nach einem Tag schon so zerbröselt sind, dass nur noch Vögel davon satt werden. Der Gaskocher ersetzt den Ofen. Am Abend sammelt sie Blaubeeren zum Nachtisch. Sie schläft lange und fährt meist kurze Strecken. Nur so lange, bis der nächste schöne Platz für eine weitere Nacht gefunden wurde.

Sie alle sind glücklich, durch Island gefahren zu sein. Sie alle haben ihre Erfahrungen gesammelt, manche wollten nie wieder zurückkommen, einige taten es gleich im nächsten Jahr. Andere brauchten fünf Jahre. Der Bazillus vom Fahrradfahren in Island geht um und lässt uns nicht so schnell los. Das Ergebnis ist unter anderem dieser Reiseführer.

 

Mai 1995

 

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